denk.werkstatt 2016

Therapeutic Architecture:
Strukturen, die heilen helfen

 

Den Mega-Trend Health Care nahm die Resopal GmbH mit der denk.werkstatt 2016 in ihren Fokus: Bei der 16. Auflage des etablierten Forums zum Vordenken und Diskutieren tauschten sich am 11. November in Groß-Umstadt rund 160 Architekten, Planer und Experten über die Zukunft der Therapeutic Architecture aus – einem Thema, das aktuell mit Nachdruck an Bedeutung gewinnt: Schon heute werden alleine in Deutschland jährlich rund 19 Millionen Menschen in stationäre Behandlung aufgenommen. Und während diese Zahl steigt, sinkt die Behandlungsdauer dank neuer Technologien stetig. Die Fachreferenzen thematisierten in diesem Kontext die bedeutende Rolle der Architektur im Gesundheitswesen. 
 

„Gesundheit geht uns nicht nur alle an, sondern ist auch ein spannendes Feld, weil sich laufend Horizonte verschieben“, führte Henning Risse, Commercial Sales Director des Schichtstoffspezialisten Resopal, in die denk.werkstatt 2016 ein. Das Plenum habe im Vorfeld ein visionäres Thema favorisiert. Passend dazu hat Resopal nach 15 erfolgreichen Jahren nun die Struktur der denk.werkstatt weiterentwickelt: Sie fokussiert nun schärfer, greift bewusst weiter in die Zukunft vor und liefert mit fulminanten Inspirationen völlig neue Denkanstöße.

Besonders emotional diskutierte Impulse lieferte der niederländische Visionär und Unternehmer Bas Lansdorp, der über das Thema „Health on Mars“ berichtete. Der Mitgründer und CEO von Mars One stellte seine Planung vor, die vorsieht, bis zum Jahr 2027 eine dauerhaft bewohnbare Siedlung auf dem Mars zu errichten. „Uns geht es nicht darum, dem Mars als zweitbesten Planeten unseres Sonnensystems etwas Gutes zu tun“, sagte Lansdrop, „vielmehr soll der beste Planet profitieren: die Erde.“ Dass Menschen in wenigen Jahren auf einem anderen Gestirn leben, werde das 21. Jahrhundert nachhaltig prägen. Die nötige Technik dafür gebe es bereits heute, die zur Umsetzung notwendigen sechs Milliarden US-Dollar hält Basdorp für finanzierbar.

Viele Menschen sehen das ähnlich. Vor fünf Jahren hatte der Niederländer das Projekt Mars One gestartet, nur wenig später bewarben sich 200.000 Menschen aus über 100 Ländern für ihre Teilnahme, obwohl die eine gewaltige Dimension in sich birgt: Die 40 Menschen, die am Ende des Auswahlprozesses übrig bleiben werden, treten eine Reise ohne Rückkehr an. „Es ist eine Einbahnstraße“, sagt Bas Lansdorp: „Wer geht, geht für immer. Der wird diesen Planeten, seine Familie und Freunde nie wiedersehen.“ Eine Rückkehr auf die Erde hält er derzeit für ausgeschlossen, weil die technische und personelle Infrastruktur für einen Raketenstart auf dem Mars nicht zur Verfügung steht.

Nach zwei Erkundungsflügen 2020 und 2022 will Mars One 2024 die Hardware in die neue Heimat fliegen. Ernst wird es 2026, wenn eine erste Vorhut von vier Menschen auf dem Mars landen wird. Sie werden die ersten sein, die in eine neue Lebenswelt aufbrechen – und werden derzeit auf diese Aufgabe in einem zehn Jahre dauernden Training intensiv vorbereitet. Dabei spielt Gesundheit eine wesentliche Rolle. „Besonders Gewicht ist für uns ein zentrales Thema“, so Lansdorp, schließlich koste der Transport eines Kilogramms 100.000 US-Dollar. Dies sei ein Grund, warum diese Mission viel Innovation auch im Gesundheitsbereich anschieben werde. Ebenso wichtig sei auch die medizinische Ausbildung der Mars-Besiedler: „Jeder von ihnen muss ein guter Arzt sein“, sagt Lansdorp, „denn eine Kommunikation zur Erde ist natürlich möglich, allerdings nur mit einer Verzögerung von 20 Minuten.“

Diese Punkte boten Ansätze genug, um im Anschluss an den Vortrag eine interaktive wie emotionale Phase zu starten – ein Novum, mit dem sich die diesjährige Resopal denk.werkstatt von ihren Vorgängern abhob. In zehn „Mars-Stationen“, alle zu unterschiedlichen Themen rund um die Gesundheit auf dem Mars, waren die Teilnehmer gefordert, spontane Ideen einzubringen, zu skizzieren, weiterzudenken und zu diskutieren. „Ganz erstaunlich, in welcher Vielfalt hier in kürzester Zeit spannende Ansätze entstanden sind“, kommentierte Mars-Missionar Bas Lansdorp das Ergebnis des knapp einstündigen Workshops.

Welche Herausforderungen schon heute zu lösen sind, hatte zuvor bereits Martin Kern berichtet, ein Experte für die Betriebsplanung von Krankenhäusern. Der Geschäftsführer von teamplan, die seit 1973 bereits rund 1800 Projekte realisiert haben, schlug aus seiner Erfahrung heraus den weiten Bogen zur heutigen, stark digital orientierten Generation Y, also der extrem mobilen, flexiblen und technikaffin aufgewachsenen Jahrgänge zwischen 1980 und 1995. „Wie viel normales Krankenhaus brauche ich noch?“, formulierte Kern eine der für ihn zentralen Fragen.

Denn während Krankenhäuser längst auch ökonomisch funktionieren müssen, stellten mündige Patienten – oder auch: Kunden – zunehmend weitere, neue Ansprüche. So spiele die Attraktivität im Umfeld eines Krankenhauses bereits heute oft eine entscheidende Rolle, unterstrich Martin Kern: Angehörige wollen übernachten können, Einkaufsmöglichkeiten werden zunehmend nachgefragt, während auf der anderen Seite die Zahl multimorbider Patienten zunehmen wird und sich damit die Anforderungen an die baulichen Strukturen ändern.

„Das System Krankenhaus wird an Attraktivität und technischen Möglichkeiten gewinnen, wenn wir es schaffen, die Raumarten weiter zu standardisieren“, so Kern und sprach neben modularen Grundrissen flexibel nutzbare Prozessstraßen an, die von Patienten linear durchlaufen werden können. Als Schnittstelle werde zunehmend das Smartphone dienen, das als Navigations-, Leit- und Kommunikationssystem bisherige Organisationsformen ablösen wird. Sicher sei jedenfalls, so Kern, dass Krankenhausstrukturen von morgen mit noch erheblich höheren Datenvolumina fertigwerden müssen.

Über neueste Forschungsergebnisse zur baulichen Hygiene in Krankenhäusern berichtete der Architekt Wolfgang Sunder, der an der Technischen Universität Braunschweig zu diesem Thema forscht. Ein spannendes Gebiet, insbesondere aus dem Blickwinkel eines Investitionsstaus von rund 14 Milliarden Euro, unter denen deutsche Krankenhäuser aktuell leiden. Parallel dazu, berichtete Sunder, habe die pharmazeutische Industrie die Antibiotika-Forschung zurückgefahren, obwohl Schäden durch multiresistente Keime zunehmen. Bestätigte Zahlen nennen rund 10.000 Tote pro Jahr, zudem einen Schaden von etwa fünf Milliarden Euro – die Dunkelziffern dürften weit höher liegen.

Als Basis der Forschung, erläuterte Wolfgang Sunder, dienen internationale Studien ebenso wie strukturierte Umfragen unter Experten des Gesundheitssektors, insbesondere Ärzten, dem Pflegepersonal und Hygienikern. Daraus ließen sich grundlegende Entwurfsprinzipien hygienerelevanter Bereiche ableiten, beispielsweise kurze interne Wege, eine Einzelzimmerstruktur mit acht bis zehn Einheiten und, besonders Notaufnahmen, separierten Sanitärbereichen. Enorm wichtig, unterstrich Sunder, sei der intensive interdisziplinäre Austausch, der in der Praxis bei weitem noch nicht ausreichend sei. Für 2017 hat Wolfgang Sunder die Veröffentlichung eines neuen Handbuchs angekündigt, das Architekten, Planer, Betreiber und sonstige Akteure bei ihrer Arbeit unterstützen will.

Einen weiteren Schwerpunkt des Themas beleuchtete Dr.-Ing. Michael Ludes von Ludes Architekten, einer der führenden deutschen Planer für Bauten des Gesundheitswesens. „Gesund durch Design?“, stellte er eine durchaus provokante Frage zu Beginn seines Vortrages, in dem er über therapeutische Effekte der Raumgestaltung in Krankenhausbauten berichtete. Immer noch dominierten zu häufig pure Funktionalität und bewusste Deindividualisierung bis hin zur emotionalen Entmündigung der Gebäude, wobei der Druck steigender Kosten und sinkender Erlöse diesen Effekt noch verstärke. Andererseits würde besonders für kleinere Häuser, so Dr. Ludes, die Ausrichtung auf Patienten- und Kundenbedürfnisse zunehmend zu einer auch ökonomisch deutlich messbaren Größe. „Die Attraktivität der Häuser spielt seit Einführung der Fallpauschale eine immer wichtigere Rolle“, sagte er: „Auch die Verantwortlichen verstehen dieses Thema zunehmend.“

Diese Entwicklung fordere die Architekten und eröffne neue Chancen, deutlich mehr als nur einzelne gestalterische Aspekte einzubringen. Dr. Ludes verwies auf den Forschungsschwerpunkt „Healing Architecture“ der Technischen Universität Berlin und warb dafür, den Patienten wieder ganzheitlich als Mensch zu betrachten statt übermäßigen Wert auf eine Bewertung isolierter Faktoren zu legen. „Räume lösen immer Emotionen aus“, erinnerte er, „dazu kommt die bewiesene heilende Wirkung von Ausblicken in die Natur – das gilt selbst für Operationssäle.“ Sogar Bilder der echten Natur seien eine enorme Hilfe, und ebenso wichtig seien aufeinander abgestimmte Farb- und Lichtkonzepte. „Kranke Menschen nehmen ihre Umwelt völlig anders wahr als Beschäftigte und Gesunde“, erinnerte Dr. Ludes, „doch genau um sie geht es doch.“ Alle eingesetzten Mittel sollten daher stets auf ihre therapeutischen Möglichkeiten hin überprüft werden: „Das ist heute nicht nur eine große Chance“, so Dr. Ludes, „sondern schlicht eine Notwendigkeit.“

Auch Professor Hans Nickl von der Architektengemeinschaft Nickl & Partner griff dieses Thema auf. „Brave New Hospital – Genesen und Heilen in smarten Zeiten“ lautete der Titel seines Vortrages, der zugleich das Leitbild seiner Arbeit abbildet. „Das wichtige Thema ist doch: Wie erlebt der Patient das Krankenhaus?“, fragt Prof. Nickl: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Dies gelte erst recht, wenn künftig immer mehr Roboter Pflegeaufgaben übernehmen. Er verwies auf die Ideale und Planungen des legendären Architekten Le Corbusier, dessen Verständnis von Ordnungsprinzipien und Stadtbausteinen ihn für Prof. Nickl zum wichtigsten Krankenhausplaner der Geschichte machten.

„Die Lebenswelt Krankenhaus braucht Nachhaltigkeit“, so Prof. Nickl, „und die beginnt bereits bei der Entwicklungsfähigkeit ihrer Strukturen.“ Das erfordere keine komplizierten Grundrisse, sondern vielmehr ein grundlegendes Verständnis von Stadtfunktionen. Als Beispiel zeigte er das bereits 1990 von ihm entworfene und realisierte Krankenhaus Agatharied in Miesbach: „Da gibt es keine Eingangshalle mehr wie in einer Bank“, sagte Nickl, „sondern eher eine Promenade, einen Eingangsplatz.“ Im Anschluss zeigte er das neue Kaiser-Franz-Josef-Spital in Wien, ebenfalls von Nickl & Partner geplant, bei dem nicht nur jedes Bettenzimmer Blicke ins Grüne zulässt, die Flure hell und zoniert sind, Dachterrassen und eine Vielzahl individueller Räume die Struktur beleben. „700 Studien belegen die Wirkung von Licht auf die Genesung“, betonte Prof. Nickl.

Für ihn und seine Mitarbeiter prägen aktuell drei große Zukunftstrends die Planung von Krankenhausbauten. So lösen zunehmend minimalinvasive Interventionen traditionelle chirurgische Prozesse ab, was völlig neu strukturierte Raumprogramme erfordere. Zudem sei die Zukunft der Gesundheitsversorgung eindeutig weiblich und mobil, ein Aspekt, der aktuell noch nicht ausreichend diskutiert werde. Dabei werde insbesondere die Familienverträglichkeit der Arbeitsplätze künftig eine große Rolle in der Planung spielen. Dazu komme die Forderung nach Einzelzimmern, um die steigende Gefahr tödlicher Infektionen einzudämmen.

In ganz andere Welten entführte zum Ende des Tages Theo Jansen. Der niederländische Künstler ist der Schöpfer der „Strandbeesters“, zu Deutsch: Strandtiere, die er als neue Lebensform vorstellte. Seine Geschöpfe sind autonom über den Sand marschierende Wunderwerke der Kinetik, gebaut aus einfachsten Mitteln – Theo Jansen benutzt allein gelbe Plastikrohre aus der Elektroinstallation, Kabelbinder, Nylonfäden und Klebeband. Das genügt ihm, um Koppelgetriebe zu bauen, Wassersensoren und Ventilkaskaden, die auf einem so hohen Niveau miteinander kommunizieren können, dass seine Strandbeesters allein mit Hilfe des Windes an der Wasserlinie entlang laufen, ein Ziel erkennen und sogar wieder zurückkehren.

„Sie sind blind und taub“, gab Theo Jansen zu, „doch sie können die Härte des Sandes spüren. Und den Wind.“ Seit über einem Vierteljahrhundert entwickelt er jedes Jahr neue Fabelwesen, 39 bislang. Theo Jansen staunt selbst über sie: „Sind es meine Pläne? Oder deren? Ich wundere mich selbst, wie schön sie sind. Ich arbeite nicht an ihrer Schönheit.“ Sie leben einen Sommer lang, später reanimiert er sie und schickt sie auf eine Tournee rund um die Welt.

Doch Theo Jansen ist nicht nur ein Träumer. Seine Geschöpfe wirken, wenn sie scheinbar von ihrem eigenem Willen getrieben über den Strand laufen, tatsächlich frei. „Ich möchte, dass die Tiere irgendwann eigenständig am Strand leben“, sagte der Visionär: „Noch muss ich sie betreuen. Gebt mir bitte also noch mal 25 Jahre“, bat er sein Publikum – und lieferte, bei den zahlreichen in die Zukunft gerichteten Themen der Resopal denk.werkstatt, somit nicht nur den weitesten, sondern zugleich den poetischsten Ausblick des Tages.

Published at: 11-01-2016